Essen gegen den Schmerz


Jeder vierte Deutsche hält Menschen, die unter starkem Übergewicht leiden, für faul, willensschwach und disziplinlos und sie sind selbst schuld an ihrer Misere. Das zeigt eine aktuelle Studie von Forschern der Universität Marburg. Dabei ist Adipositas - starkes Übergewicht mit übermäßigen Fetteinlagerungen - kein einheitliches Krankheitsbild. Die Ursachen sind unterschiedlich, häufig spielen Faktoren eine Rolle, die Betroffene nur bedingt beeinflussen können.

In manchen Fällen liegt dem starken Übergewicht eine besondere psychische Störung zugrunde: das Binge-Eating-Syndrom. "Binge" bedeutet Gelage. Wer die Binge-Eating-Störung hat, leidet unter wiederkehrenden, zwanghaften Essanfällen. Betroffene verlieren dabei die Kontrolle und stopfen übermäßig viel in sich hinein, mit Vorliebe kalorienreiche Lebensmittel wie Süßigkeiten, Eiscreme oder Junk Food. Die Attacke lässt keine Zeit, um in Ruhe eine Mahlzeit zu kochen oder Salatzutaten klein zu schneiden. "Die Betroffenen essen während eines Essanfalls schneller als üblich, ohne hungrig zu sein und bis hin zu unangenehmen Völlegefühlen", sagt Psychologin Anja Hilbert, Leiterin der Nachwuchsforschergruppe Adipositas an der Philipps-Universität Marburg. Bis zu 15.000 Kalorien nehmen Betroffene bei einem solchen Anfall zu sich. Im Unterschied zur Bulimia Nervosa, auch Ess-Brech-Sucht genannt, erbrechen Menschen mit der "Binge-Eating"-Störung hinterher nicht.

Was in den Augen mancher Menschen ein ungezügeltes Frönen, eine unappetitliche Disziplinlosigkeit sein mag, ist in Wirklichkeit krankhaft und macht eine Behandlung erforderlich. Betroffene können eben nicht einfach normal essen, sich zügeln und zusammenreißen. Der aktuellen Definition zufolge erfüllen all diejenigen das Krankheitsbild, die über einen Zeitraum von mindestens einem halben Jahr zweimal oder mehr pro Woche einen solchen Essanfall bekommen. Allerdings diskutieren Wissenschaftler darüber, die Schwelle herabzusetzen, berichtet Hilbert. "Auch Menschen, die nur ein mal in der Woche einen solchen Anfall erleiden, sind meistens krank", sagt die Marburger Psychologin.

Schon in den 50er Jahren haben Ärzte die Symptomatik von Heißhungeranfällen bei ihren Patienten beschrieben, aber erst im Jahr 1994 wurde die Binge-Eating-Störung von Wissenschaftlern als Diagnose definiert. Ungefähr ein bis drei Prozent der Bevölkerung leiden unter dieser Esssucht, so Hilbert. Nicht alle davon haben Adipositas, und nicht alle von Adipositas Betroffenen haben die Binge-Eating-Störung. Doch es gebe es einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Krankheit und einem starken Übergewicht, sagt Hilbert. Wie viele adipöse Menschen tatsächlich darunter leiden, ist nicht genau bekannt. Einzelne Untersuchungen bei speziellen Abnehmprogrammen hätten gezeigt, dass bis zu 30 Prozent der adipösen Teilnehmer von Binge-Eating betroffen waren. Binge Eating, so nimmt man jetzt an, ist in der Bevölkerung weiter verbreitet als Anorexia (Magersucht) und Bulimie zusammen.
Weniger Akzeptanz als bei Magersucht
Binge-Eating wird häufig unterschätzt und abgetan. Den Grund dafür liegt wohl in der allgemeinen abwertenden Haltung gegenüber adipösen Menschen. Jeder vierte Deutsche stimmt Vorurteilen wie "Dicke sind faul" oder "Dicke sind disziplinlos" zu. Bei einer Essstörung wie Magersucht hingegen ist die Akzeptanz in der Gesellschaft höher, weil Untergewicht heute eher als schön empfunden wird. "Magersucht gilt manchen als Ausdruck von Kontrolle über den Körper", so die Psychologin Hilbert. Wir verbinden Anorexie mit Askese und Selbstbeherrschung. Adipösen Menschen wird das Gegenteil vorgeworfen. Aber wie kommt es, dass Menschen so übermäßig viel essen müssen? Nicht selten verbirgt sich dahinter eine komplexe psychische Störung. Sexueller Missbrauch oder andere Misshandlungen sind mögliche Risikofaktoren für das Binge-Eating-Syndrom, ebenso wie für andere Essstörungen. Die Betroffenen essen dann extrem viel, um sich für Männer unattraktiv zu machen. Dabei geht es nicht allein darum Gewicht zuzunehmen, denn das übermäßige Essen verändert auch die Hormonproduktion. Das Weibliche wird abgewehrt – manche Frauen bekommen sogar einen Damenbart.
Aber auch andere psychosoziale Faktoren kommen als Ursache infrage, wie Vernachlässigung und mangelnde Fürsorge im Kindesalter. Allerdings können auch Überbehütung, Ängstlichkeit, Perfektionismus und übersteigerte Ansprüche der Eltern oder der Tod einer nahestehenden Person Risikofaktoren sein. Essanfälle sind eine Flucht vor den negativen Gefühlen, eine Art Problemlösemechanismus. Vorübergehend können die Attacken zu einem rauschartigen Zustand führen; sie helfen den Betroffenen dabei, quälende Gefühle zu verdrängen.

Tatsächlich ist das Verdrängen nur von kurzer Dauer. Wer wieder einmal die Kontrolle verloren hat, fühlt sich hinterher noch mieser. Die Betroffenen quälen sich mit Selbstvorwürfen und empfinden Ekel. Langfristig leidet das Selbstwertgefühl und es kann bis hin zu Selbsthass und Depressivität kommen. Warum also nicht einfach damit aufhören? Manche Patienten empfinden es als Sucht, sgen die Therapeuten. Auch wenn Binge-Eating nicht im klassischen Sinne als Sucht gilt – unter anderem weil es keine Entzugserscheinungen gibt. Mit normalen Diätprogrammen ist den Betroffenen nicht geholfen. Bei vielen ist eine Psychotherapie notwendig. Dabei lernen die Betroffenen, die unerträglichen Gefühle, die womöglich hinter den Anfällen stecken, auszuhalten. Außerdem ist es wichtig, dass die Patienten nicht zu schnell Gewicht verlieren. Eine moderate Umstellung der Ernährung und regelmäßiges Essen ist wichtig, um erneuten Anfällen vorzubeugen. Außerdem ist Sport unerlässlich, denn sonst verschwinden Muskeln, was den häufig beklagten Jojo-Effekt nach sich zieht.
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Quelle: www.stern.de