“Best Agers”, wie bitte?


In der digitalen Ausgabe der “Ärztezeitung”, deren Inhalt uns oftmals Themen zum posten bietet, gibt es eine Sparte, die sich “Best Agers” nennt.

Was verstehen Sie denn darunter? Ich vermute, dass Sie, so ganz spontan, bestimmt nicht an die Generation der 30-Jährigen denken. Viel zu schwierig haben viele von ihnen es doch heute mit der Positionierung auf dem Arbeitsmarkt,  die auch noch zeitlich (falls es überhaupt in Frage kommt) mit Familiengründung zusammenfällt. Ja, und die Vierzigjährigen, die waren  es früher, wenn sie dann mal ihre Midlifecrisis überwunden hatten:  Männer  und Frauen voller Energie, mit Kindern, die inzwischen auch aus den Windeln raus waren. Vielleicht mit brandneuen Lieben. Die Männer noch voller Manneskraft, die Frauen schön und endlich weiblich, in ihren besten Jahren eben.
Klar, Sie denken an die 50Plus - Generation. Ist ja auch naheliegend. Denn die Kinder sind aus dem Haus. Das leere Nest ist auch wieder mit anderen schönen Lebensinhalten gefüllt. Die finanzielle Situtation ist meistens ziemlich beruhigend. Man lebt noch, wenn man morgens wachwird. Der Tag kann beginnen!

Aber weitgefehlt: denn 70 sind doch die neuen 30! Das bedeutet, dass, wenn Sie sich auf die Seite durchklicken, die Themenpalette zu den “Best-Agers” sich (heute morgen) folgendermassen liesst:
  • Ratgeber zu Prostata und Inkontinenz, oder
  • Immer mehr Hundertjährige, oder
  • Rentner lassen sich ihre Gesundheit etwas kosten, oder
  • Kaum Erektion nach Prostata-OP, oder
  • Nach der Menopause: mehr Brüche bei Gewichtsschwankungen

Soll man nun lachen oder weinen? – Die Kombination von Best Agers und Erektionsstörungen, Menopause und Inkontinenz gehört seit Menschheitsbeginn doch wohl eher in das Programm von Kabarettisten.

Nun ist es tatsächlich so, dass die Jahrgänge der Babyboomer (zu denen auch der Blogschreiber zählt) inzwischen alle so uralt werden oder geworden sind, dass sie in Massen unter uns sind. Aber irgendwie wird hier dumme und verschönernde Augenwischerei betrieben. Und es ist zu vermuten, dass Absicht dahintersteckt. 

Schliesslich steckt hinter dieser übermässig grossen Gruppe, die die demografische Pyramide heute eher wie ein Atompilz aussehen lässt, ein Riesengeschäft dahinter.
Kann diesen Millionen von Menschen nicht die reine Wahrheit eingeschenkt werden? Würden sie dann panisch wie die Lemminge ins Wasser rennen?

Was auf einen zukommen kann, wenn er denn die locker gewordene Grenze zum Alter überschritten hat, weiss heute inzwischen jeder. Glücklicherweise sind die oben erwähnten Themen auch nicht mehr tabuisiert, sodass Betroffene mit einer gewissen Offenheit darüber sprechen mögen.  Aber muss da eine Altersstufe per Begriff so beschönigt werden, dass es schon wieder lächerlich ist?

Kennen Sie einen Best Ager in den 70-ern, der ohne Cialis und Co. Sex hat?. Kennen Sie Frauen in der Menopause, die 2mal wöchentlich Lust auf Sex haben? Kennen Sie Prostata-Operierte, die noch können?  Kennen Sie Hundertjährige, die Marathon laufen? … Ja, die gibt es, wahrscheinlich noch reichlich. Aber die Regel ist es nicht.

Deshalb muss das Leben nicht weniger schön sein, nur eben ein bisschen anders schön.
Die persönliche Einschätzung, Ihr persönliches Best Age überschritten oder erreicht zu haben, ist tatsächlich unabhängig vom biologischen Alter, aber bestimmt abhängig vom Gesundheitszustand. Vom gegenwärtigen Standpunkt, vom heutigen Tage aus gesehen, können Sie sagen: Jetzt erlebe ich meine schönste Lebensphase. Oder im Rückblick sagen Sie sich: Damals, das war die Schönste. Und dabei geht Ihnen wahrscheinlich auf, dass Sie sich in dieser Zeit ziemlich gesund und fit fühlen oder es waren.

Deshalb möchte ich Ihnen einen Rat geben, der ziemlich abgedroschen klingen mag: konzentrieren Sie sich auf Heute und die schönen Momente heute. Ihre Krankheiten müssen und dürfen Sie ernst nehmen, aber vermeiden Sie, sich als Best-Ager Krankheiten und Probleme Ihrer Altersgruppe und ihre wundersamen Heilmittel aufschwatzen zu lassen. Denn mit Ihnen soll Geld verdient werden, viel Geld.


Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich wunderbar fühlen, egal wie alt Sie sind.

Hungerkunst

“Versuche jemand die Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen” (Franz Kafka, vermutlich magersüchtig)

Stellen Sie sich vor, Sie treffen bei einem Stadtgang einen alten Bekannten. Das Gespräch beginnt vielleicht mit dem üblichen gegenseitigen Austausch von Kurzmeldungen: Ja, es geht ganz gut; Frau ist noch da; seine Arbeitsstelle hat er auch noch; naja, der Tochter geht es schlecht. Mit ihren 14 Jahren schien es, dass sie ihre Schulprobleme hinter sich gebracht hat, aber das gewünschte Glück für sie und die Eltern hat sich doch nicht eingestellt. Und der Vater schildert kurz und knapp, dass sie erst kürzlich aus einem längeren Klinikaufenthalt entlassen worden ist, wo sie wegen Magersucht behandelt wurde.

Sagen Sie mal ehrlich: was wäre ihre erste Reaktion? Welche Gedanken gehen ihnen durch den Kopf? Läuft in ihrem Kopf per Zeitraffer eventuell die Familiengeschichte, von der Sie (ein paar) Informationen haben ab: Was? erst diese Schulprobleme, jetzt Magersucht? Noch eine, irgendwie typisch, liegt es vielleicht doch an der Familie?, bei DER Mutter…, kein Wunder bei DEM Vater…,
Bitte, wer frei ist von solchen ersten Gedanken, der werfe jetzt den ersten Stein!

Oder es kommen Ihnen vielleicht andere Gedanken: Wie schrecklich müssen diese letzten Jahre für das Mädchen sein, für die Mutter, die schon mit sich selbst genug zu tun hat, welche Belastung für die Familie!. Wie gut geht es uns doch! …



Oder sie wundern sich über die völlig unbeteiligte, nüchterne, regelrecht anteilnahmslose Haltung des Vaters. Hat er doch mit absoluter Distanz  die Situation seiner Tochter geschildert, die an einer so ernsten Krankheit leidet, dass sie tödlich ausgehen kann. Vielleicht interpretieren Sie diese Haltung im nachhinein als seinen verzweifelten Versuch, in dieser schweren Familiensituation nicht völlig die Kontrolle zu verlieren.

Wie auch immer, Sie fühlen sich vielleicht unwohl bei dem Gespräch, weil Sie gar nicht wissen, wie Sie sich am besten verhalten könnten, ohne gleichgültig oder taktlos zu wirken. Schliesslich gehören er und seine Familie, wenn auch entfernt, doch irgendwie auch zu Ihrem Leben. Und wir wissen ja auch um die Gefahren von Essstörungen aller Art; nur: irgendwie möchten oder können wir es dann doch kaum ertragen, auch nur durch das Wissen, mit hereingezogen zu werden in die Problematik dieser Krankheit.

Ist es nicht auch mit der “Anorexia nervosa” so wie in Franz Kafkas (ironischer?) Geschichte vom “Hungerkünstler”, dass der Hungerkünstler, denn das sind wohl diese Kranken, unsere Aufmerksamkeit und Anerkennung, also unsere Liebe will. Er hungert kunstvoll (mit seinem System, seinen Ritualen, seiner “Hingabe”) für uns! Wenn wir dann aber genug gesehen und gehört, sehen oder hören wir nicht mehr hin, ziehen voreilig Schlüsse, stempeln ab, packen in Schubladen und suchen gelangweilt die nächste Attraktion/ Krankheit, die uns für einen kurzen, klitzekleinen Augenblick und bitte nur aus der Entfernung betroffen macht?