Auf der Alm da gibt's koa Stress

Der moderne Mensch lebt alles andere als ein ursprüngliches, einfaches und an den Grundwerten des ausgerichtetes Leben. Und - der moderne Mensch ist gestresst. Deshalb brauchen wir immer mehr und immer öfter, so scheints, Auszeiten, um uns und eben diese Grundwerte in uns wieder zu regenerieren. Vor ein paar Jahren zogen Scharen von Leuten ins Kloster, angesagt sind auch immer noch Spa-Hotels oder “finde- dich- selbst- workshops”. Aber andere stossen auf die absolute Alternative: Sie gehen arbeiten, richtig hart arbeiten – und erfüllen sich einen ALB-traum. Inzwischen werden es immer mehr Menschen, die sich z. Bsp. bei dem Almwirtschaftlichen Verein Oberbayern in Miesbach als Senner auf Zeit bewerben.

Die Interessenten kommen aus allen Altersschichten zwischen 17 und über 70, zumeist aus Deutschland (warum sind wir Deutschen eigentlich immer so extreme in unserem Geschmack?), auch aus Hamburg, Rügen, Berlin. Aus den Bewerbern wurden bisher etwa 40 von ihnen erfolgreich an Bauern vermittelt. In diesem Jahr sind angeblich besonders viele Abiturienten dabei.
Landwirtschaftsminister Helmut Brunner (CSU) erklärt den Run auf die Hütten seiner Albbauern so: "Den Tag nach ganz anderen Regeln gestalten, Verantwortung für die Tiere übernehmen und Einblicke in die harte Arbeit des Almbauern gewinnen - das ist sicher eine wertvolle Erfahrung".
Doreen Bachmann ist eine von denen, die 1996 zum ersten Male auf die Alm stieg - aus Dresden nach Bayern. Erst Restaurantfachfrau, Stewardess auf hoher See, Bürokauffrau, dann 2010 Sennerin , und ihre siebenjährige Tochter Elina brachte sie gleich mit, um sich um 27 Kälber, 5 Milchkühe, ein Schwein und einige Hühner zu kümmern. Ihre Bilanz: 200 Kilo Butter, 45 Laib Käse und jeden Tag 100 Liter Milch. Im nächsten Jahr will sie wieder los, mit Tochter und einem Baby, “ da findet man zurück zu den Grundwerten des Lebens".

Kein Konsum, keine Hektik und Natur pur und ein einfaches Leben –das ist es, was die Saisonsenner/-innen (etwas mehr Frauen als Männer) in das Abenteuer starten lässt und sie fasziniert. Und es gab noch keinen Fall von “nie wieder!!”.
Sennen und anschliessend Kulturschock erlebt der Hausarzt und Hobby-senner Uwe Hausmann (73) aus Seeshaupt am Starnberger See (auch nicht unbedingt eine Metropole) dies Jahr nun schon zum neunten Male. Er zieht auf die Bernauer Alm unterhalb des Risserkogels und betreut dann 40 Rinder, vielleicht auch Schafe. "Es läuft prima, ich fühle mich da oben pudelwohl. Zurück in der Zivilisation wundert er sich dann über allmorgendliches Autofahren.

Kein Fernsehen, kein Strom, nur etwas Solarenergie, das Wasser kommt aus dem Brunnen, Internet gibt es nicht und dann noch ein schlechter oder gar kein Handy-Empfang. "Macht gar nix", ist die allgemeine Meinung. Doch Sturm und Blitze fast in Körpernähe, eine abgestürzte Kuh bergen, das ist nicht unbedingt die Heidi-Idylle aus dem Fernsehen, sondern eher ein knallharter Knochenjob.
Bei Sonnenaufgang steht man auf, Sonnenuntergang ist Schlafenszeit. Zur Vorbereitung gibt es Fachkurse, die harte Arbeit wird mit 300 bis 1200 Euro netto im Monat vergütet. Was die Leute dahin treibt sind Erfahrungen. Sehen, wie weit man gehen kann. Klingt so etwa wie andere bei “Paris-Dakar”, so eben mal zum Stressabbau.
Falls Sie auch Lust bekommen: Insgesamt sind es 710 Almen und 20.000 Stück Vieh in Oberbayern, 685 Alpen und 30.000 Rinder im Allgäu, wo sich die Berg- und Almbauern wahrscheinlich über etwas Hilfe freuen würden.
Quelle: aerztezeitung.de