Auch das noch: Simulantenhospital



Doktorspiele in der Uni Münster:
Ein Krankenhaus, chirurgische Station, Zimmer 2. Eine ganz normale Visite. Die Stationsärztin steht am Bett und stellt Fragen. Derweil wird ihr Patient, vor zwei Tagen am Blinddarm operiert, immer schlapper. Er jammert: »Mir ist kotzübel!« Ungerührt versucht Frau Doktor weiter, sich durch Fragen ein Bild von seinem Allgemeinzustand zu machen. »Der schmiert ihr gleich ab!«, murmelt der Professor im Nebenraum, hinter Spiegelglas verborgen.

Alles fast echt: grüner Krankenhausboden, überbreite Türen, Blumen auf dem Nachttisch, sogar an ein Glas mit einem Gebiss wurde gedacht. Der »abschmierende« Patient steckt in einem karierten Pyjama und ist reichlich blass – das ist unecht. Der Mann ist geschminkt, ein Schauspieler. Ein ziemlich überzeugender Simulant des postoperativen Schockgeschehens.

Die Uniklinik Münster hat vor wenigen Tagen ihr »Studienhospital« eröffnet. Ein kleines Lehrkrankenhaus für die praktische Ausbildung ihrer Mediziner. Unter den Augen der Kommilitonen und der Ausbilder üben Medizinstudenten einfache Dinge: Wie nahe trete ich meinem Patienten? Wann fasse ich ihn an? Und so Schwieriges wie: Was mache ich, wenn eine harmlose Visite plötzlich zu einem lebensbedrohenden Drama wird? Hinterher wird diskutiert, und hier besteht vielleicht zum ersten und letzten Mal während der Laufbahn des Arztes die Chance, von einem Patienten einen Satz zu hören wie diesen: »Es hat mich geärgert, dass Sie kaum angeklopft haben und schon im Zimmer waren.«

Learning by doing ist üblicherweise das Äußerste an praktischer Ausbildung, die deutsche Ärzte genießen. Auch der »Arzt im Praktikum«, der 2002 nach der neuen Approbationsordnung ersatzlos verschwand, war eher ein Sprung ins kalte Wasser. So lernen Ärzte den Umgang mit Patienten, das praktische Untersuchen und das diagnostische Wahrnehmen mit allen Sinnen nur nebenher, unter allerlei Reibungsverlusten – und manches nie.

Einige Universitäten haben das Defizit erkannt. Weil man schlecht an echten Kranken üben kann, verfiel man auf simulierende Schauspieler. So beschäftigt die Uni Heidelberg heute 80 Akteure, an denen vieles geübt wird: Patientengespräche, Visiten, sogar »Fehlerkommunikation«. Auch in Tübingen und Berlin gibt es solche Ansätze. Münster, in den Hochschulrankings aufgrund der mäßigen praktischen Ausbildung seiner Mediziner nur im Mittelfeld, hat jetzt europaweit zum ersten Mal ein realitätsnahes komplettes Hospital eingerichtet. Für 450000 Euro, zum Teil aus den erhobenen Studiengebühren entnommen, wurde ein Schwesternwohnheim umgebaut. Die teure Technik sponserten die Gerätehersteller. Jetzt verfügt man über Stationszimmer, Intensivpflegezimmer, ein Schwesternzimmer mit Rufanlage, Überwachungsapparate und überall Desinfektionsmöglichkeiten. »Woran wir noch arbeiten, ist der authentische Krankenhausgeruch«, gesteht Studiendekan Bernhard Marschall. Da fehlt noch das richtige Putzmittel. Bis 2009 folgen eine Ambulanz, eine Intensivstation und ein OP-Trakt.

Die 16 Schauspieler, die bislang in Münster als Patienten geschult wurden, hat man im Theaterpädagogischen Zentrum der Stadt gefunden. Dessen Geschäftsführer gibt mit Vorliebe – und zur nicht geringen Erbauung aller Zeugen – den uneinsichtigen Säufer mit Leberzirrhose. Quittegelb im Gesicht, belügt Volker Kuhlhüser bei der Anamnese den Arzt, dass sich die Balken biegen. »Höchstens zwei Bierchen am Tag« gibt er in breitem Dortmunder Dialekt zu. Er spielt so überzeugend, dass die angehenden Ärzte regelmäßig vergessen, ihn auf seine Hautfarbe anzusprechen. Auch das versteht sich nicht von selber: dass ein Arzt seinem Patienten gewachsen ist.

Den Morbus Crohn, eine chronische Darmentzündung, gibt Gabriele Brüning, die auch schon die Lady Macbeth gespielt hat. Sie ist als Kranke ein Naturtalent; niemand musste ihr sagen, dass diese Krankheit nervös und fahrig macht. Sie redet bei der »Chefarztvisite« wie ein Wasserfall, will viele Details wissen, sodass sich schließlich der angehende Mediziner und sein Professor – ungewollt – in einem Fachgespräch verirren.

Ein hohes Maß an Authentizität kann auch bei den eingebildeten Kranken selbst zu Problemen führen. So geht es dem Blinddarm auf Zimmer 2 – Volker Kuhlhüser – regelmäßig wirklich schlecht nach seiner Darbietung. Er berichtet von kribbelnden Händen und Kreislaufproblemen. Manchmal müssen ihn die Ausbilder für den nächsten Fall aus dem Bett zerren – er würde sonst einfach liegen bleiben.

Um einen Mindestabstand zwischen den Menschen und ihrer Rolle herzustellen, wurden die anfangs benutzten Privatpyjamas inzwischen aussortiert und stattdessen »Dienstschlafanzüge« angeschafft. Und für alle Fälle wurden Codewörter verabredet. Steigert sich ein Simulant etwa zu stark ins Hyperventilieren hinein, kann er zum echten Patienten werden. Das wäre dann eindeutig zu authentisch.

Quelle: DIE ZEIT-online