“Versuche jemand die Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem
kann man es nicht begreiflich machen” (Franz Kafka, vermutlich magersüchtig)
Stellen Sie sich vor, Sie treffen bei einem Stadtgang einen alten
Bekannten. Das Gespräch beginnt vielleicht mit dem üblichen gegenseitigen
Austausch von Kurzmeldungen: Ja, es geht ganz gut; Frau ist noch da; seine
Arbeitsstelle hat er auch noch; naja, der Tochter geht es schlecht. Mit ihren
14 Jahren schien es, dass sie ihre Schulprobleme hinter sich gebracht hat, aber
das gewünschte Glück für sie und die Eltern hat sich doch nicht eingestellt.
Und der Vater schildert kurz und knapp, dass sie erst kürzlich aus einem
längeren Klinikaufenthalt entlassen worden ist, wo sie wegen Magersucht
behandelt wurde.
Sagen Sie mal ehrlich: was wäre ihre erste Reaktion? Welche Gedanken
gehen ihnen durch den Kopf? Läuft in ihrem Kopf per Zeitraffer eventuell die
Familiengeschichte, von der Sie (ein paar) Informationen haben ab: Was? erst
diese Schulprobleme, jetzt Magersucht? Noch eine, irgendwie typisch, liegt es
vielleicht doch an der Familie?, bei DER Mutter…, kein Wunder bei DEM Vater…,
Bitte, wer frei ist von solchen ersten Gedanken, der werfe jetzt den
ersten Stein!
Oder es kommen Ihnen vielleicht andere Gedanken: Wie schrecklich müssen
diese letzten Jahre für das Mädchen sein, für die Mutter, die schon mit sich
selbst genug zu tun hat, welche Belastung für die Familie!. Wie gut geht es uns
doch! …
Oder sie wundern sich über die völlig unbeteiligte, nüchterne,
regelrecht anteilnahmslose Haltung des Vaters. Hat er doch mit absoluter
Distanz die Situation seiner Tochter
geschildert, die an einer so ernsten Krankheit leidet, dass sie tödlich
ausgehen kann. Vielleicht interpretieren Sie diese Haltung im nachhinein als
seinen verzweifelten Versuch, in dieser schweren Familiensituation nicht völlig
die Kontrolle zu verlieren.
Wie auch immer, Sie fühlen sich vielleicht unwohl bei dem Gespräch, weil
Sie gar nicht wissen, wie Sie sich am besten verhalten könnten, ohne
gleichgültig oder taktlos zu wirken. Schliesslich gehören er und seine Familie,
wenn auch entfernt, doch irgendwie auch zu Ihrem Leben. Und wir wissen ja auch
um die Gefahren von Essstörungen aller Art; nur: irgendwie möchten oder können
wir es dann doch kaum ertragen, auch nur durch das Wissen, mit hereingezogen zu
werden in die Problematik dieser Krankheit.
Ist es nicht auch mit der “Anorexia nervosa” so wie in Franz Kafkas
(ironischer?) Geschichte vom “Hungerkünstler”, dass der Hungerkünstler, denn
das sind wohl diese Kranken, unsere Aufmerksamkeit und Anerkennung, also unsere
Liebe will. Er hungert kunstvoll (mit seinem System, seinen Ritualen, seiner
“Hingabe”) für uns! Wenn wir dann aber genug gesehen und gehört, sehen oder
hören wir nicht mehr hin, ziehen voreilig Schlüsse, stempeln ab, packen in
Schubladen und suchen gelangweilt die nächste Attraktion/ Krankheit, die uns
für einen kurzen, klitzekleinen Augenblick und bitte nur aus der Entfernung
betroffen macht?